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Schwellenländer

„Indien ist nicht das neue China“

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„Indien ist nicht das neue China“

Erik Lueth sieht langfristig großes Potenzial in Indien.

Indien zeichnet sich durch hohes Wirtschaftswachstum und wirtschaftliche Stabilität aus. Im Fokus stehen Aktien. Dabei sind auch indische Anleihen attraktiv, erläutert Erik Lueth, Analyst für Schwellenländer beim Investmenthaus Legal and General Investment Management (LGIM).

Herr Lueth, Indiens Wirtschaft wird dieses Jahr um sieben Prozent wachsen und damit so stark wie kein anderes Schwellenland. Kann der Subkontinent China als führendes Schwellenland überholen?

Erik Lueth: Indien zeichnet sich durch eine starke Wachstumsstory vor allem im Dienstleistungssektor aus. Das Land hat sich schneller und stärker von der Corona-Pandemie erholt als China. Dort rechnen wir in diesem Jahr mit einem Wachstum von nur noch 4,8 Prozent. Indien ist nicht das neue China. Dazu ist der Industrialisierungsgrad des Landes zu gering. Denn klar ist: Mit Dienstleistungen sind nicht dieselben Produktivitätsgewinne möglich wie in der Industrie. Die Unterschiede im Bruttoinlandsprodukt sind immens: Während Indien 2023 auf einen Wert von 3,5 Billionen Dollar kam, war das von China mit 17,7 Billionen Dollar um ein Vielfaches größer.

Die berühmte BRIC-Studie von Goldman Sachs aus dem Jahr 2003 sagte einen Siegeszug der großen Schwellenländer voraus. China solle dieser Studie zufolge die USA als größte Volkswirtschaft 2040 ablösen. Bleibt es dabei und welche Rolle wird Indien in Zukunft spielen?

Erik Lueth: Der Siegeszug der Schwellenländer China und Indien hält an. Erkennbar ist das daran, dass ihr Anteil am Welthandel wächst. War Indien 2023 für 3,4 Prozent der Weltproduktion verantwortlich, wird dieser Wert bis 2050 auf 7,7 Prozent zulegen. Der Anteil von China an der Weltproduktion wird von 16,9 Prozent 2023 bis 2050 auf 20,7 Prozent steigen. Dennoch wächst Chinas Wirtschaft schwächer als das ursprünglich in der Bric-Studie prognostiziert wurde. Wir rechnen damit, dass China die USA erst 2050 als größte Volkswirtschaft der Welt ablösen wird. Indien wird nach unserer Prognose Japan und Deutschland 2030 überholen und damit zur Nummer drei der Weltwirtschaft aufsteigen. 

Indien ist derzeit bei Anlegern in aller Munde. Was macht Indien für Anleger so interessant?

Erik Lueth: Indiens Stärke liegt im Servicesektor. Allen voran genießt die IT-Branche weltweit einen erstklassigen Ruf. Westliche Firmen lagern Callcenter oder Programmierarbeiten nach Indien aus. Die Kommunikation läuft problemlos auf Englisch. Indien ist eine im Vergleich geschlossene Volkswirtschaft, die sich unabhängig von der Weltwirtschaft entwickelt. Deswegen sind die Aktien- und Anleihemärkte weniger stark korreliert mit anderen Finanzmärkten. Auch das macht ein Investment so interessant.

Wie sieht es mit dem politischen Umfeld aus?

Erik Lueth: Indien verfolgt unter Ministerpräsident Modi eine reformorientierte Wirtschaftspolitik und verfügt über eine stabile Währung sowie die viertgrößten Währungsreserven der Welt. Ein weiteres Plus Indien ist der Bankensektor, der sich von seiner Krise überholt hat. Unterm Strich sehen wir eine intakte Wachstumsstory. Ein Schwachpunkt bleibt aber der Industriesektor, der in Indien nicht stark ausgeprägt ist.

Indische Aktien sind relativ hoch bewertet. Wo sehen Sie in Indien aktuell Investmentchancen?

 Erik Lueth: Unternehmen aus dem Aktienindex MSCI India sind derzeit mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 23 zwar hoch bewertet, aber noch nicht überteuert. Langfristig bietet der indische Aktienmarkt große Chancen. Aktuell finden wir Anleihen spannender als Aktien. Indische Anleihen wurden im Juni erstmals in den Anleiheindex JP. Morgan Emerging Markets Bond Index Global Core (EMBIG CORE) aufgenommen. Dieser Index bildet den Anleihemarkt der wichtigsten Schwellenländer ab und spielt für institutionelle Anleger eine große Rolle. Der Anteil Indiens steigt monatlich um ein Prozent, bis eine Obergrenze von zehn Prozent erreicht ist. Investoren sind derzeit unterinvestiert im indischen Anleihemarkt. Das wird sich mit der Indexaufnahme ändern. Das könnte zu Kapitalzuflüssen in indische Anleihe in Höhe von 20 bis 25 Milliarden US-Dollar führen. Entsprechend könnten die Kurse indischer Anleihen steigen.
 
 Lassen Sie uns einen Blick auf China werfen. Das Land hat seine Rolle als führende Wachstumslokomotive der Weltwirtschaft verloren. Wie schätzen Sie die Lage der chinesischen Wirtschaft ein?

 Erik Lueth: Eines steht fest: China wird nicht mehr so stark wachsen können wie vor der Corona-Pandemie. Das liegt zum einen an Überinvestitionen, aber auch an der schwachen demografischen Entwicklung des Landes. Chinas Bevölkerung überaltert stark. Chinesische Privathaushalte können eigentlich nur in Immobilien im Inland investieren, aber nicht im Ausland. Viele Beobachter hatten nach der Pandemie mit einem starken Nachholeffekt beim Konsum gerechnet. Doch der ist ausgeblieben. Nach wie vor ist die Vertrauenskrise groß. Viele Immobilien sind nicht fertig gestellt. Die Regierung konzentriert sich aber eher auf Investitionen in Schlüsseltechnologien.
 
 Was bedeutet das für Anleger?

Erik Lueth: Auf der einen Seite ist die wirtschaftliche Lage Chins nicht gut. Auf der anderen Seite sind chinesische Aktien so stark gefallen, dass sie attraktiv sind. Das lässt sich auch an der Bewertung von Aktien im Index MSCI China ablesen. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis liegt aktuell bei 9. Ein Vorteil einer Beimischung chinesischer Aktien ist, dass der Aktienmarkt wie der Indiens nicht so stark mit anderen wichtigen Börsen korreliert ist. Zudem rechnen wir nicht mit einer Finanzkrise in China.
 
 Welche Schwellenländer finden Sie derzeit sonst noch interessant?

Erik Lueth: Attraktiv ist Indonesien, das sich durch eine starke Leistungsbilanz auszeichnet. Das Land verfügt zudem über interessante Lithium-Quellen, die in Batterien für Elektroautos zum Einsatz kommen. Interessant sind auch Vietnam und Mexiko. Mexiko profitiert davon, dass US-Unternehmen Lieferketten stärker in die Nähe der USA verlagern. Weniger überzeugend ist derzeit Brasilien, das zwar stark bei Rohstoffen ist, aber Schwächen in der industriellen Produktion zeigt. Zudem ist das Land stark verschuldet. In Osteuropa finden wir Polen interessant. Das Land ist ökonomisch breit aufgestellt. 

Zur Person

Erik Lueth ist seit Ende 2014 bei Legal & General Investment Management (LGIM) in London tätig. Als Global Emerging Market Economist beobachtet er die Wirtschaft und Anlagemöglichkeiten der wichtigsten Schwellenländer. Zuvor arbeitete er bei einem Hedge Fonds in London, der Royal Bank of Scotland in Hong Kong und dem Internationalen Währungsfonds in Washington. Erik Lueth promovierte in Volkswirtschaftslehre bei Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen an der Universität Freiburg.

 
Dirk
Autor: Dirk Wohleb

Freier Wirtschafts- und Finanzjournalist