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Von DR. HERBERT WALTER

 

Seit zwei Jahren lebt Deutschland in der besten aller nur möglichen Welten. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern Europas brummt hierzulande die Wirtschaft, die Arbeitslosigkeit ist niedrig. Der Aktienmarkt boomt, der Dax ist über 9000 Punkte geschossen. Wer Aktien oder auch Aktienfonds, ETFs und Zertifikate im Depot hat, kann sich über satte Gewinne freuen.

 

Einige haben die derzeit günstigen Baufinanzierungszinsen genutzt und sich eine Eigentumswohnung als Kapitalanlage gekauft. In Top-Lagen wie München, Hamburg, Berlin oder Frankfurt freuen sie sich nun über zweistellige Wertzuwächse ihres „Betongoldes“.

 

Beinahe möchte man meinen: Wer braucht in einem solchen Umfeld noch eine Finanzberatung? Das Vermögen wächst ja quasi von alleine. Einfach eine gute Mischung an unterschiedlichen deutschen Wertpapieren ins Portfolio, eine Immobilie in guter Lage dazu – und fertig.

 

Aber stimmt das wirklich – und vor allem: Stimmt es auch für die Zukunft?

 

Es lohnt es sich, einen kritischen Blick auf die Gesamtlage zu werfen. In Berlin laufen derzeit die Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD. Volkswirte und Anlageexperten schauen immer skeptischer auf die Pläne, die zwischen den Parteien diskutiert werden.

 

Sie reichen von der Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Euro bis hin zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer. Statt die Rentenbeiträge zu senken (und damit Unternehmen wie Arbeitnehmer zu entlasten), sollen die Renten für Geringverdiener erhöht werden.

 

Durch alle diese Maßnahmen drohen steigende Kosten für die deutsche Wirtschaft. Die zukünftige Bundesregierung ist also drauf und dran, die Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft zu schwächen. Das könnte mittelfristig auch die Aktien deutscher Unternehmen nach der jüngsten Kursrallye belasten.

 

Vergessen wir nicht: Deutschland (und übrigens auch die USA) hat zuletzt auch von der Schwäche der anderen profitiert. Es galt in den vergangenen Krisenjahren bei Investoren als sicherer Hafen. Davon profitierten der Staatshaushalt aufgrund niedriger Zinsen und der Aktienmarkt aufgrund der guten Finanzlage deutscher Unternehmen.

 

Aber sichere Häfen brauchen Investoren nur, solange andere Anlaufpunkte als zu riskant erscheinen. Das kann sich ändern. Und das wird sich nach meiner Einschätzung auch wieder ändern.

 

Viele EU-Länder arbeiten sich – aller noch existierenden Schwierigkeiten zum Trotz – langsam aus ihrer Rezession heraus. Spaniens Wirtschaft ist im letzten Quartal um 0,1 Prozent gestiegen und hat die Rezession hinter sich gelassen. Positive Nachrichten kommen auch aus Irland, den Niederlanden und Österreich.

 

Laut der neuesten Umfrage des Forschungsinstituts Markis ist der Einkaufsmanagerindex in Europa (basiert auf einer Umfrage unter 3000 Unternehmen) im Oktober im Vergleich zum Vormonat um 0,2 auf 51,3 Punkte gestiegen. Alle Werte über der Marke 50 sprechen für eine Expansion der Nachfrage.

 

Ich meine deshalb, Länder wie Spanien, Italien und Großbritannien haben bei Anlegern zu Unrecht einen schlechten Ruf. Gerade die Volkswirtschaften an der europäischen Peripherie verzeichnen seit Monaten parallel zum Ende der Rezession einen Rückgang der Anleihezinsen. Das bedeutet: Die Refinanzierungskosten der dortigen Unternehmen sinken, die Aussichten auf höhere Gewinne steigen.

 

Es ist durchaus wahrscheinlich, dass die europäische Wirtschaft auch in Zukunft weniger dynamisch wächst als die amerikanische. Aber US-Aktien haben in den vergangenen zwei Jahren schon massiv zugelegt – viel stärker als in vielen europäischen Ländern.

 

Mit anderen Worten: Viele europäische Aktien sind nach den Krisenjahren deutlich unterbewertet und haben eine Menge Potenzial nach oben. Die Liquiditätsflut der EZB könnte hier für einen zusätzlichen Schub sorgen. Immer häufiger ist auch zu hören, dass internationale Investoren die südeuropäischen Immobilienmärkte wieder entdecken.

 

Deutschland könnte davon zwar auch profitieren. Gehen doch 69 Prozent der Exporte in die europäischen Länder und 57 Prozent in die Euro-Zone. Aber der deutsche Aktienmarkt könnte dennoch deutlich weniger zulegen als viele andere Indizes auf dem Kontinent.

 

Zum einen aufgrund der bereits seit zwei Jahren laufenden Hausse – Dax und MDax verzeichnen Rekordstände. Zum anderen aufgrund der oben beschriebenen „Wohltaten“ durch eine Große Koalition zu Lasten der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Zumindest wird Deutschland wohl nicht mehr allen anderen Volkswirtschaften in Europa meilenweit voraus sein.

 

Keine Party währt eben ewig – und sei es, dass die Politik die Musik abdreht. Anleger sind deshalb gut beraten, mit Blick auf die Bundesrepublik nicht zu euphorisch zu werden und sich die langfristigen Perspektiven aller EU-Staaten vor Augen zu halten.

 

Viele Politiker in Berlin betonen gerne, dass Deutschland noch vor zehn Jahren als „kranker Mann Europas“ galt und heute als Vorbild gepriesen wird. Sie vergessen dabei, dass es im Jahr 2023 schon wieder umgekehrt sein kann. Die Verlierer von heute können eben die Gewinner von morgen sein – und umgekehrt.

 

Für Anleger kann die Konsequenz daraus nur lauten: Bleiben Sie aufmerksam, vermeiden Sie Klumpenrisiken, streuen Sie Ihr Vermögen breit. Setzen Sie nicht auf die Gewinner von heute, sondern von morgen.

 

Und diejenigen, die bisher von Aktien ängstlich die Finger gelassen haben, sollten überlegen, ob sie angesichts der weiterhin positiven Aussichten nicht doch etwas stärker ins Risiko gehen wollen. Zumindest die Anlage eines kleinen Betrags in europäische Papiere könnte sich lohnen.

 

 

Dr. Herbert Walter, 60, führte von 2003 bis 2009 die Dresdner Bank und war Mitglied im Allianzvorstand. Vorher arbeitete er 20 Jahre für die Deutsche Bank, zuletzt war er dort weltweit für Privat- und Geschäftskunden verantwortlich. Heute ist Walter als selbständiger Berater und Aufsichtsrat tätig. Unternehmerisch engagiert er sich beim Finanz- & Beraterportal WhoFinance.de.

 

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